Tages-Anzeiger, Hintergrund – Samstag, 14. Februar 2004

Onlinesucht: Vom Spiel zum bitteren Ernst
Nächtelang durchgezockt: Oliver und Marcel: «Wenn du in einem Fight bist, vergisst du alles andere.» Drei Jahre lang war für Oliver und Marcel online spielen wichtiger als Freunde, Familie oder die Schule. Sie sagen selbst: «Wir waren onlinesüchtig!»
[Vgl. Interview zu Onlinesucht lässt sich gut verbergen am Schluss des Artikels]
Von Roger Zedi

«Am Morgen stand ich auf, stellte den PC an und spielte schon mal eine halbe Stunde, bevor ich in die Schule musste», erzählt der 19-jährige Oliver. «Mir ging es genauso. Und fast jede Nacht spielte ich bis 1 oder 2 Uhr morgens», erinnert sich Marcel (18). Seine Eltern dachten, er schliefe. Tagsüber in der Schule kreisten die Gedanken nur um das eine: Wann kann ich endlich weiterspielen? Sie waren müde, unkonzentriert, abwesend. Die schulischen Leistungen sanken, der Freundeskreis schrumpfte. Ihre Aufgaben machten beide nebenher am PC, wo sie auch assen. Am Wochenende wurde manchmal pausenlos durchgezockt.

Was war los mit den beiden? «Wir wussten es zwar nicht, aber wir waren onlinesüchtig», stellen sie nüchtern fest. Oliver und Marcel wirken ganz und gar nicht, wie man sich Süchtige landläufig vorstellt. Gefasst, für ihr Alter fast schon etwas gesetzt, erzählen sie von ihren Erfahrungen. Die beiden kennen sich von der Kantonsschule Wiedikon und sind Nachbarn.
Mehr als blosses Ballern
In was für einer Parallelwelt lebten sie während gut dreier Jahre? «Rainbow Six: Rogue Spear» heisst der taktische Ego Shooter, dem die beiden verfallen waren. Darin schlüpft man in die Rolle eines Soldaten, gekämpft wird im Team, so genannten Clans. Hinter jedem Clanmitglied steckt eine reale Person, die via Internet teilnimmt. Dabei geht es nicht um blosses Herumballern. Vielmehr, und darin steckt ein wichtiger Teil der Faszination, sind Taktik und Teamarbeit gefragt. Will man es als Clan zu etwas bringen, erreicht man dies nur mit Disziplin und hartem Training. Man trifft sich nach fest vereinbartem Terminplan, um die virtuellen Landschaften auszukundschaften, Manöver einzustudieren oder geheime Kommandos zu vereinbaren. Tourniere und Kämpfe folgen ebenfalls fixen Terminen. Kurzum: Spielen wird zum Vollzeitjob, zum bitteren Ernst.
«Die Strategien entwerfen, die Einsätze planen, das Team zu leiten – das hat mir am besten gefallen», sagt Oliver. Dabei funkelt in seinen Augen für einen Moment wieder jene Faszination auf, die ihn kaum losliess. Im extrovertierteren der beiden Freunde schlummert wohl ein kleiner Manager.

Virtuelle Welten, reale Gefühle

Anfangs spielte Oliver gegen den PC, bis er entdeckte, dass es online viel spannender ist: «Weil hinter dem Gegner ein echter Mensch steckt, der sich dieselben taktischen Überlegungen macht wie du selbst.» Er zeigte das Game Marcel, der sofort darauf einstieg. Sie wurden bald von einem Clan angefragt, ob sie mitmachen wollten. Das war eine schmeichelhafte Sache, Anerkennung für ihr Können. Und auch wenn das Spiel virtuell war – die Anerkennung war real. Ebenso der Ehrgeiz, sich auf den Ranglisten nach oben zu kämpfen.

Ein weiterer Reiz war der Austausch mit den anderen Clanmitgliedern, auch wenn selten über Privates gesprochen wurde. «Meistens bleibt alles recht oberflächlich, und man weiss ja nie genau, was alles wahr ist», sagt Marcel. Kann man da vielleicht sogar seine künftige Freundin kennen lernen? Beide sind ob der Idee verblüfft und rümpfen die Nase. «Frauen sind eher die Ausnahme. Und das sind sicher komische Frauen, die da mitmachen», denkt Oliver, und Marcel ist überzeugt, dass «Frauen lieber shoppen gehen». Er ist übrigens, einen Monat nachdem er mit Gamen aufgehört hat, mit seiner jetzigen Freundin zusammengekommen. Wäre das vorher auch möglich gewesen? Er lächelt verlegen. «Beides gleichzeitig geht nicht.»

Und welcher Reiz ging von der Gewalt im Spiel aus? Immerhin killt man laufend Leute. «Jetzt kommt sicher gleich die Frage mit Erfurt», erwidern die beiden jungen Männer gelangweilt. In der ostdeutschen Stadt erschoss 2002 ein Jugendlicher 16 Mitschüler und Lehrer. Der Täter soll zuvor Ego Shooter gespielt haben. Mit so jemandem wollen Oliver und Marcel auf keinen Fall in einen Topf geworfen werden. «Ich hatte nie das Verlangen nach realer Gewalt», versichert Marcel, und Oliver ist überzeugt, dass es «dabei schon darauf ankommt, was für eine Person man sonst ist».

Warnungen der Eltern ignoriert

«Meine Mutter hat mich oft zusammengeschissen und mir gesagt, ich übertreibe es, ich sei süchtig», erzählt Oliver. Sie ging sogar so weit, ihm die Harddisk aus dem PC auszubauen, dann war Zwangspause. Auch Marcels Mutter wies ihn oft auf sein Suchtverhalten hin. Genützt hat es nichts: Beide stritten stets ab, ein Problem zu haben. An den Moment, als es Oliver dann doch ablöschte, erinnert er sich so: «Ich fragte Marcel, ob er abends in die Stadt mit mir eins trinken kommt. Er lehnte ab, weil wir am Abend doch einen Fight hätten. Das sei ihm wichtiger.» Oliver bearbeitete seinen Freund danach über ein Jahr, bis dieser sich schliesslich vom Gamen loslösen wollte und konnte. Dabei half zuletzt Marcels eigener Erfolg. Mit der Zeit war er so gut, dass er andauernd des Schummelns bezichtigt wurde. «Damit war dann auch die Anerkennung weg», erzählt Marcel.

Es war ein Glücksfall, dass die beiden sich kannten. «Wenn du da alleine drin steckst, ist es nochmals viel schwerer, je rauszukommen», sagt Marcel. Mit ihren Nichtspielerkollegen sprachen sie nur wenig darüber, da diese ihnen eh sofort rieten, einfach aufzuhören. Eigentlich hat es die auch gar nicht interessiert. Zu Hause schwiegen die beiden aus Angst vor Verboten. Rat in einer Beratungsstelle suchen? Davon wussten sie nichts, und wenn, hätten sie es wohl eher nicht getan.

Prävention und Aufklärung tun Not

Mittlerweile haben die beiden ihre Sucht zum Thema ihrer Maturarbeit gemacht (ab März auf www.haeni.net abrufbar). Sie wollen damit auf das Problem aufmerksam machen. Hätten ihnen Warnungen auf der Packung des Spiels etwas gebracht? Marcel, eher der ruhigere der beiden, lacht laut heraus. Aber im Ernst: «Immerhin hätten wir gewusst, dass es so etwas überhaupt gibt», sagt Oliver. «Bei Zigaretten oder anderen Drogen ist Prävention ja auch nicht sinnlos», fügt er hinzu und zieht an seiner Zigi. Immerhin raucht Marcel nicht. Interessieren sie andere Drogen? Das strikte «Nein» der beiden tönt glaubhaft.

Oliver spielt ab und zu wieder, diesmal «America’s Army». Das Spiel wurde von der US-Armee herausgebracht, um Jugendliche auf den Geschmack zu bringen. «Das ist mir völlig egal», sagt er dazu. Bald wartet die RS auf die beiden. Endlich richtig rumballern, das müsste sie doch freuen? «Ich bin nicht geil auf echten Krieg. Auf die Waffen freu ich mich gar nicht so. Aber es wird sicher eine gute Erfahrung», sagt Marcel. Keine Lust, auf untauglich zu machen? Verständnislose Blicke – offenbar nicht. Einzig Oliver denkt, er könnte vielleicht während der Zeit auch etwas Sinnvolleres machen. Studieren zum Beispiel.
[TA | 09.02.2004]


«Onlinesucht lässt sich gut verbergen»
Mit Franz Eidenbenz* sprach Roger Zedi

Herr Eidenbenz, wie häufig ist Onlinesucht in der Schweiz?
Unsere Untersuchungen zeigen, dass zwischen 2 und 3 Prozent der jungen Surfer eine Abhängigkeit entwickeln und über 35 Stunden pro Woche im Netz sind.

Hängt die Sucht nur von der Dauer ab, die man online verbringt?
Nein. Ausschlaggebend ist, dass das Internet wichtiger wird als das reale Leben. Zudem verlieren die Betroffenen die Kontrolle darüber, wie lange sie online sind.

Was ausser Spielen macht abhängig?
Neben Spielen geht vor allem von Chats und Sexsites ein Abhängigkeitspotenzial aus. Bei den Spielen sind es nicht nur die Ballergames, auch Rollenspiele und andere Genres können abhängig machen. Auch offline sind die Betroffenen mit dem Netz beschäftigt, es kann zu Problemen am Arbeitsplatz und in der Schule kommen.

Was für Menschen sind betroffen?
Alle möglichen Leute, den typischen Onlinesüchtigen gibt es nicht. Jugendliche bilden jedoch eine Risikogruppe.

Wie viele Anfragen wegen Onlinesucht haben Sie bei Ihrer Beratungsstelle?
Etwa eine in zwei Wochen, das führt zu achtzig Sitzungen im Jahr. Das tönt nach wenig. Es braucht eben viel, bis sich Betroffene bei uns melden. Wir stellen aber eine Zunahme fest.

Wie bemerkt man Onlinesucht?
Die Süchtigen schaffen es oft, den Eindruck zu erwecken, sie seien mit etwas Wichtigem beschäftigt. Dagegen hat meist niemand etwas. Und man merkt erst spät, dass etwas nicht stimmt, etwa wenn sie sich von realen sozialen Kontakten abschotten oder die Leistungen abfallen.

Was kann man tun als Angehöriger?
Es ist wichtig, dass man reagiert, denn die Betroffenen verdrängen ihre Internetkonsumprobleme. Interesse dafür zeigen, was genau jemand am Netz fasziniert, was jemand online kriegt, das er oder sie real nicht bekommt. Es kann helfen, die Onlinedauer aufzuschreiben. Das Bewusstsein darüber ist schon eine Konfrontation. So kommt man ins Gespräch. Eine Beratungsstelle aufsuchen ist auch hilfreich. Wie wichtig ist Prävention?
Vor allem an den Schulen wäre Prävention wichtig. Lehrkräfte vermitteln jedoch hauptsächlich technisches Knowhow. Negative Aspekte werden oft ausgeblendet.

*Der Psychologe Franz Eidenbenz leitet die Sozialpsychologische Beratungsstelle Offene Tür in Zürich.