Bezirksschule Endingen
Klasse Lukas Müller


13.12.02

Bitte nicht verharmlosen! - Von Leo Gehrig
[Tages-Anzeiger, 14.12.2002, Seite 2, mit Copyright für diese Klassenwebsite]

Aus der Sicht der Jugendlichen ist es nicht glaubwürdig, an einem Verbot des Cannabiskonsums festzuhalten, das von den Gesetzeshütern sehr unterschiedlich und widersprüchlich interpretiert wird. Wie sollen Jugendliche uns Erwachsene ernst nehmen, wenn zum Beispiel in derselben Stadt die zuständigen Behörden eindeutig gesetzeswidrige Hanfläden tolerieren, aber junge Kiffer strafrechtlich verfolgen? Wie sollen Jugendliche auf uns hören, wenn selbst Bauern, die sonst politisch rechts orientiert sind, das grosse Geschäft mit dem Hanf wittern? Statt Zuflucht bei einem - wirkungslosen - gesetzlichen Verbot, einer so genannten formellen Norm, zu suchen, ist es für die Jugendlichen viel hilfreicher, wenn wir uns mit ihnen informell, das heisst auf einer ganz persönlichen Ebene, intensiver und ehrlicher über den Konsum von Cannabis auseinander setzen.

Warum entzünden sich rund um das Cannabis immer wieder so hitzige Debatten wie jüngst im Zusammenhang mit der Bekanntgabe des höheren THC-Gehaltes von Indoorhanf und der Ergebnisse von neueren wissenschaftlichen Studien?

Cannabis bietet sich von seiner Geschichte und seinen Wirkungen her als eine vorzügliche Projektionsfläche an. Wir Erwachsene ereifern uns häufig über das Kiffen, um nicht über unsere eigentlichen Ängste und Nöte in der Beziehung zu Kindern und Jugendlichen sprechen zu müssen. Wenden sich vielleicht deshalb so viele Jugendliche von uns Erwachsenen ab und hören nicht mehr auf unsere wohlgemeinten Ratschläge, weil sie uns nicht als echte Vorbilder erleben? Ein «Ofen» - wie die Jugendlichen sagen - erzeugt Wärmegefühle. Tatsächlich frieren nach meinen Eindrücken viele Kinder und Jugendliche in unserer kühlen, zu sehr auf Effizienz, materielle Werte, Rationalität und «coole» Technik ausgerichteten Welt. Übrigens: Konstruktive Auseinandersetzung gibt Reibung - und Reibung erzeugt Wärme.

Kiffen verursacht eine «Scheibe». Suchen vielleicht deshalb so viele Jugendliche innere Ruhe und Entspannung mit Hilfe eines Joints, weil sie mit den vielen Angeboten der Erlebnis- und Unterhaltungsindustrie überfordert sind? Finden vielleicht auch deshalb so viele Jugendliche das gemeinsame Kiffen in der Clique so friedlich, verbindend, lustig und «geil», weil sie in der Erwachsenenwelt selten heiteren und humorvollen Menschen begegnen?

Viele Eltern sind verunsichert und ratlos. Es ist für sie tatsächlich schwierig, bei der verwirrenden Informationslage eine Haltung gegenüber dem Kiffen zu finden. Auf Fragen nach dem richtigen Mass erhalten sie von Experten unterschiedliche Empfehlungen. Wer sich für eine Entkriminalisierung des Erwerbs und des Konsums von Cannabis einsetzt, muss auch deutlich auf die Risiken hinweisen. So steht für mich zweifelsfrei fest, dass sich übermässiges Kiffen von Jugendlichen, mehrmals wöchentlich und über Monate hinweg, und der damit verbundene Lebensstil ungünstig auf die Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben auswirkt (zum Beispiel Ablösung von den Eltern, berufliche Ausbildung, eigenständige Freizeitgestaltung). Ein derartiger Konsum beeinträchtigt ihre Motivation und Überwindungskraft und verstärkt ihre «Anscheissstimmungen». Es geht bei Jugendlichen auch immer um die Frage, was sie mit übermässigem Kiffen in dieser für sie so wichtigen Entwicklungsphase verpassen. Aber das gilt es selbstverständlich auch bei einem übermässigen Alkohol-, TV- oder Internetkonsum zu fragen.

Für das richtige Mass und den angemessenen Zeitpunkt für den Konsum von Cannabis gibt es keine objektiven Kriterien. Es bleibt immer ein Restzweifel. Und so ist auch meine Empfehlung nicht frei von Selbstzweifeln: Wenn ich aber die Chancen und Risiken des Konsums von Cannabis abwäge, die gesellschaftlichen Lebensbedingungen mit berücksichtige, in denen unsere Jugendlichen aufwachsen, und die noch vielen offenen Fragen zum Cannabis in Erwägung ziehe, dann lautet meine Empfehlung an die Jugendlichen und ihre Eltern, nicht vor dem achtzehnten Lebensjahr Cannabis zu konsumieren. Noch besser ist es, wenn ganz darauf verzichtet werden kann.

Befürworter wie Gegner einer Liberalisierung betonen die Wichtigkeit der Prävention. Die vielen Anbieter auf dem Präventionsmarkt nehmen diese Hilferufe gerne an. Bei manchen Veranstaltungen für Jugendliche bin ich mir allerdings nicht sicher, ob sie tatsächlich wirksam sind. Ich mache mir um Jugendliche, die in sich einen gewissen Halt haben, über einen emotionalen Boden verfügen, einen Draht zu den Eltern haben, keine Sorgen; sie finden im Allgemeinen einen angemessenen Umgang mit Genussmitteln und anderen Verlockungen, manchmal vielleicht auch erst nach einigen Turbulenzen. Diese Grundlagen werden in der Kindheit gelegt, beispielsweise mit gemeinsamen Erlebnissen oder der Förderung der Selbstständigkeit, die das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen stärken.


Leo Gehrig ist Fachpsychologe, ehemaliger Leiter einer Drogenstation für Jugendliche und Autor des Buches «Kiffen - was Eltern wissen müssen»:

Kiffen - Was Eltern wissen müssen, Gehrig, Leo
Kartoniert/Paperback, 2001, 113 S., CHF 22,80
ISBN 3-7152-1027-3, Pro Juventute Verlag, Zürich
Versandbereit in 2 Tagen, online bei OrellFüssli

Wegen Kiffen allein wird heute kaum mehr jemand angezeigt, geschweige denn bestraft. Aus der Sicht der Jugendlichen verlieren die Erwachsenen an Glaubwürdigkeit, wenn sie an einem gesetzlichen Verbot festhalten, das nicht durchgesetzt wird. In dieser Situation sind Eltern doppelt verunsichert, wenn sie erfahren, dass ihr Kind - gelegentlich oder regelmässig - Cannabis-Produkte (Haschisch oder Marihuana) konsumiert. Ist der Konsum nun völlig unproblematisch - oder vielleicht doch nicht? Unter welchen Umständen ist ein Eingreifen der Eltern angezeigt? Und was können Eltern tun, wenn sie wahrnehmen, dass der Cannabis-Konsum ihres Kindes zum Problem wird? Dieser Ratgeber von Leo Gehrig vermittelt Anregungen für den Familienalltag, wenn Kiffen zum Thema wird, und er gibt kompetente Antworten auf die Fragen verunsicherter Eltern.


Mit freundlichen Grüssen - Lukas Müller